Hilflos?

Fieberfrei seit drei Tagen. Zwischendurch einmal Pusteblume auf dem Roten Sessel. Die mich ein ausgewachsenes Mittagsschläfchen hat halten lassen. Mich ansonsten aber, bis auf die üblichen Gliederschmerzen, für die ich nach den Torturen der letzten Wochen nur ein müdes Lächeln übrig hatte, ziemlich unberührt ließ. Nach der großen Menge Flüssigkeit, die zur Chemo gereicht wurde, bin ich nicht verwundert, dass das Atmen mir vorerst wieder etwas schwerer fällt. Das geht in Ordnung. Zumal ich es gestern vermochte, auf meinen Bus zu LAUFEN. Nur 50 Meter weit. Ich war spät. Der Bus musste an einer roten Ampel halten. Ich musste ihn erwischen. Ich lief. Weder brach ich zusammen, noch fuhr der Omnibus mir vor der Nase davon. Da war ich mal selig, sag ich Ihnen. Überhaupt: Wie ich es genieße, mich wenigstens in der Wohnung frei und unerschöpft bewegen zu können! Die Glotze ertrage ich nicht mehr. Nicht einmal mehr abends. In den vergangenen Wochen habe ich genug ferngesehen für den Rest meines Lebens. Mein Krankenlager im Wohnzimmer hat ausgedient. Eine Nacht werde ich mir darauf noch gönnen. Danach wird in die Hände geklatscht und alles wieder an seinen ursprünglichen Platz geräumt. Das Sofa wird zum Sofa werden, das Bett zum Bett.

Die Versehrtheit, Immobilität und Hilflosigkeit, die meine nahe Vergangenheit prägten, haben mich maßlos geängstigt. Ich kann mich wirklich nicht entsinnen, je so krank gewesen zu sein. Zu schwach zum Aufstehen. Unterbrochen  von den Phasen, in denen die Schmerzmittel das Fieber soweit senkten, dass ich wenigstens kurze Erledigungen ins Auge habe fassen können. Grundsätzlich aber zu nichts zu gebrauchen. Gezwungen habe ich mich, meine Wäsche zu waschen und jederzeit etwas Essbares im Haus zu haben. Als ein Klinikaufenthalt wahrscheinlicher wurde, schaute ich gerade noch, ob es offene Rechnungen gab, damit ich nicht an dieser Front womöglich  böse Überraschungen erlebte.

Falls, nein: Wenn; denn der Tatsache, dass der Tag kommen wird, an dem es mir unumkehrbar schlechter geht, muss ich einfach ins Auge blicken. Wenn es also eines Tages soweit sein wird, will ich gewappnet sein und habe versucht, mich so gut es geht, abzusichern und einige Vorbereitungen getroffen. Generalvollmacht, Palliativdienst und, und, und. Zuständigkeiten im Privaten sind besprochen. An vieles habe ich gedacht. Nur eben nicht daran, dass auf einmal alle Bezugspersonen mehr oder weniger ausfallen könnten. Während ich im Bett liege. Wie ein Käfer auf dem Rücken. Die Schottin ist auf Weltreise. Die Französin nach dem Schlaganfall ihres Vaters komplett bei ihrer Familie eingespannt. Der Herr Papa ist gerade dabei, ein neues Geschäft zu eröffnen und konnte nicht einmal für zwei Tage kommen. Für alle anderen wäre es eine Zumutung gewesen, mal eben zum Durchsaugen oder Einkaufen vorbei zu schneien. Die sie aber auf sich genommen hätten. Viele Angebote habe ich ausgeschlagen, weil ich mich gerade eben so noch durchwursteln konnte. Und unbedingt wollte! Dennoch: Der Zeitpunkt, unselbständig zu werden, war denkbar ungünstig gewählt. Zumal ich mich zu schlecht zum Denken gefühlt habe. Auf den Trichter, eine Haushaltshilfe zu organisieren, kam ich gar nicht. In der Lage wäre ich dazu ohnehin nicht gewesen.

Auf eine solche Weise aufgezeigt zu bekommen, am eigenen Leib zu spüren, dass es blauäugig war zu denken,  alles würde sich schon irgendwie ergeben, ich hätte im Falle eines Falles- ach, und wann wird das schon sein?-  genug Unterstützung, war niederschmetternd. Ich fühlte mich, wie auf rohen Eiern- komplett unsicher. Diese Erfahrung war aber vor allem eines: Notwendig. Denn es gibt eben Stationen im Leben, da ist jeder fest in sein Korsett eingebunden und muss schauen, dass er den eigenen Motor am Laufen hält. Familie und Freunde sind wichtig, überlebenswichtig sogar. Mit ihnen lacht man, weint man, lebt man. Mal wird man unterstützt, mal tut man für sie, was man kann. Manche Dinge aber müssen Leute tun, die dafür Geld bekommen. Ich lebe nun einmal allein. Führe grundsätzlich einen eigenen Haushalt. Niemand aus meinem privaten Umfeld kann und wird das für mich übernehmen können. Nicht einmal zur Überbrückung. Ein Pflegedienst aber kann. Nur ahnen kann er es nicht. Deswegen stehen nun weitere Gespräche an. Sue gab mir den Tipp. Natürlich geht es mir ohne Fieber besser. Aber dass ich Bäume ausreißen könnte, möchte ich nicht behaupten. Zwar glaube ich, dass ich noch  einmal ganz gut auf die Beine kommen werde. Wissen kann ich das allerdings nicht. Noch bin ich ungeduldig und hoffe, in zwei Wochen mein Lauftraining wieder aufnehmen zu können :D. Trotzdem ist genau jetzt, da der Eindruck von Hilflosigkeit noch sehr präsent ist, der richtige Zeitpunkt, mich um Unterstützung zu bemühen.

Überhaupt bin ich, seit ich meinen Kopf nicht mehr unterm Arm, sondern dort trage, wo er hingehört, ziemlich betriebsam. Wiederholt sehe ich alle Unterlagen durch, sortiere, werfe weg. Sobald ich damit durch bin, tue ich mich mit der Französin zusammen und erkläre ihr alles. Sie ist nämlich eingetragen in der Generalvollmacht und wird sich, wenn ich nicht kann, um Administratives kümmern. Dass sie dazu sehr gut in der Lage ist, auch bei hoher emotionaler Belastung, stellt sie momentan eindrucksvoll unter Beweis bei ihrer Familie. Ich möchte es ihr so leicht wie möglich machen. Also ran an den Speck!

Und noch eine Idee hatte ich. Wer nicht atmen kann, der kann auch nicht laufen. Logisch. Ich habe also beim Landratsamt angerufen und nach einem Änderungsantrag für den Grad der Behinderung und das Merkzeichen G gefragt. Der mir heute zugeschickt wurde. Es würde meine persönliche und finanzielle Lage so sehr verbessern, wenn ich wenigstens für öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr zahlen müsste! Es kostet mich nichts, den Antrag zu stellen. Ob ihm stattgegeben wird, muss ich dann sehen. Wenigstens versucht habe ich es dann aber.

Sie sehen, es gibt viel zu tun. Und zu verarbeiten. Uff.

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9 Antworten zu Hilflos?

  1. babs schreibt:

    liebe perdita,
    wie gebannt schaue ich auf den pc und denke: uffff.
    zäh. zielorientiert. klar strukturiert.
    bin froh zu wissen, dass dein kopf wiedr dort ist wo er hingehört. sehr froh.
    hoffe, dass die pusteblume ihren job hervorragend macht.
    bin bei dir
    allerliebste grüße
    babs

    • wearinganewbra schreibt:

      Lady B nannte mich neulich auch: Ein zähes Luder, das sicher alle überleben wird :D.
      Ich glaube fest an die Pusteblume!
      Ein schönes Wochenende wünsche ich Dir und Deiner Familie. Liebste Grüße!

  2. sue schreibt:

    Ich wünsche Dir viel Erfolg, kompetente Partner und wenig Formulare bei der Organisation dieser ganzen Dinge. Für das „G“ sind die Daumen gedrückt.
    lieben gruss
    sue

  3. Ricci schreibt:

    Klasse, wie Du alles in Angriff nimmst und regelst. Du hast ordentlich Cochones! Und ich finde es sowieso besser, zu agieren als zu reagieren, dann fühlt man sich nicht so ausgeliefert.
    Würden wir beieinander wohnen, dann würde ich mit Freuden Deinen Staubsauger schwingen.
    So bleibt mir nur, Dir ordentlich Luft und Kraft zu wünschen.
    Alles Gute
    Ricci

    • wearinganewbra schreibt:

      Ricci, ich bin selbst ganz überrascht. Mir war aber schon immer klar, dass erst der Leidensdruck hoch genug sein muss, bevor ich tätig werde. Jetzt hat er ein erkleckliches Level erreicht, möchte ich meinen.
      Liebe Grüße

  4. Felix M. schreibt:

    Sie haben das geschafft Perdita, was in unserer Selbsthilfegruppe mit als das wichtigste zur Bewältigung der Krankheit gilt, egal, ob man sie -noch- los werden kann, oder nicht. Sie managen Ihr Leben und haben damit auch Ihre Krankheit im Griff. Und die Krankheit hat Sie NICHT im Griff, wie schlimm es immer auch kommen mag.

  5. wearinganewbra schreibt:

    Lieber Felix, die Krankheit hat mich nur dann nicht im Griff, wenn ihre Symptome zu handhaben sind. Worauf ich nur begrenzt Einfluss habe. Ansonsten gibt es Schöneres und Wichtigeres. Man kann es sich nur nicht immer aussuchen. Momentan ist eine veritable Panik mein Antrieb. Gott sei Dank übersteigt die Angst nicht meinen Verstand. Sonst hätte ich nur noch größere Probleme…

  6. Francie schreibt:

    Liebe Perdita

    … Warte eigentlich auf einen neuen Post und hoffe, dass soweit alles einigermaßen in Ordnung ist.

    Wünsche dir auf alle Fälle viele Hasen, Eier und glückliche Tage.

    Bin doch ab und zu in Gedanken bei dir.

    Alles Liebe
    Francie

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